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Ein Interview zu der Lage in Süd Kurdistan und im Irak mit Dr. Thomas Schmidinger

Newroz.com führt seit dem 10. Juni 2014 Interviews zu dem Angriff der jihadistischen Terrorgruppe, ISIS (Islamischer Staat im Irak und in (Groß-)Syrien), auf die Millionenstadt Mossul. Die Stadt fiel in wenigen Stunden in die Hand der ISIS, da die irakische Armee nicht in der Lage war gegen sie zu kämpfen. Im gleichen Zug eroberten sie weitere irakische Städte, die merhheitlich sunnitisch sind. Die Taten der ISIS sind medial höchst präsent und führen u.a. zu unterschiedlichen Verschwörungstheorien.

Wir hatten die Gelegenheit den Politikwissenschafter und Sozial- und Kulturanthropologe, Dr. Thomas Schmidinger, zu diesem brisanten Thema zu interviewen. Herr Schmidinger ist Mitbegründer und Generalsekretär der Österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie / Europäisches Zentrum für kurdische Studien, Redaktionsmitglied der gemeinsam mit der Berliner Gesellschaft zur Förderung der Kurdologie / Europäisches Zentrum für kurdische Studien herausgegebenen Fachzeitschrift 'Kurdische Studien' und im Editorial Review Board des internationalen peer-reviewed journal Kurdish Studies .

Newroz.com: Der Präsident der kurdischen Autonomieregion, Mesud Barzani und andere kurdische Politiker haben, laut eigener Aussagen, die irakische Zentralregierung auf die Angriffspläne der ISIS in Mosul hingewiesen, jedoch sei dem keine Beachtung geschenkt worden. Wie allgemein bekannt, hörte die amerikanische NSA zahlreiche Gespräche selbst hochrangiger deutscher Politiker ab. Aus diesem Grund wird ihre vermeintliche Unkenntnis bezüglich der Angriffspläne der ISIS zunehmend in Frage gestellt. Inwieweit kann man dieser Unkenntnis Glauben schenken?

Thomas Schmidinger: Die US-Geheimdienste haben mittlerweile eher das Problem, dass sie zu viele als zu wenig Informationen haben und in einer Masse an Informationen untergehen. Es ist unwahrscheinlich, dass sie die Indizien, die für einen bevorstehenden Angriff sprachen nicht kannten, wenn sogar ich davon auf einer Gerüchtebasis wusste. Allerdings ist es durchaus möglich, dass sie sich in der Bewertung dieser Gerüchte schwer taten und insofern zu einer Fehleinschätzung der Situation kamen.
Die US-amerikanischen Dienste haben sich im Irak schon mehrfach als äußerst fehlerhaft erwiesen. Insofern würde es auch diesmal nicht besonders erstaunlich sein, dass die Informationen, die sie hatten, einfach falsch interpretiert und gewichtet wurden.
Zugleich stellt sich allerdings die Frage, was die USA denn tun hätten sollen, wenn sie davon Bescheid gewusst hätten. Wenn die irakische Armee über so wenig Kampfmoral verfügt, dass sie einfach davon läuft, dann hätte dies auch der beste Geheimdienst nicht verhindern können und eine Wiederbesetzung des Irak hätte kein demokratisch gewählter US-Präsident durchgestanden. Obama hätte also auch dann nicht besonders viele Alternativen gehabt.

Der Angriff der ISIS wäre allerdings auch deshalb kaum kurzfristig abzuwehren gewesen, weil er unter der sunnitisch-arabischen Bevölkerung Mosuls und einiger anderer zentralirakischer Städte durchaus populär war. Bereits im Laufe des letzten Jahres kam es hier zu einer starken Entfremdung großer Teile der sunnitisch-arabischen Bevölkerung von der zunehmend als konfessionell-schiitisch empfundenen Regierung Maliki. Dass gewaltfreie Massenproteste vom Regime ignoriert wurden, spielte sicher extremistischeren Gruppen in die Hände.

Dazu muss auch festgehalten werden, dass es sich bei dem Angriff im Juni ja auch nicht nur um eine Offensive von ISIS handelte, sondern vielmehr um ein Bündnis aus ehemaligen Baathisten um Izzat Ibrahim al-Douri und dessen so genannte „Armee der Männer des Naqshibandi-Ordens“ (Jaysh Rijāl aṭ-Ṭarīqa an-Naqshabandiya), sowie lokalen sunnitischen Stämmen, die schon einmal al-Qaida unterstützt hatten, dann ab 2006 aber die Seiten wechselten und viele der so genannten „Söhne des Irak“ stellten, die auf der Seite der Amerikaner gegen al-Qaida kämpften. Diese Leute wurden, nachdem man sie nicht mehr brauchte, nicht in die Sicherheitskräfte integriert und von Maliki-treuen Schiiten verdrängt. Jetzt wird zwar wieder darüber diskutiert, sie erneut gegen ISIS einzusetzen. Viele der fast 90.000 so genannten Sahwa-Kämpfer sind allerdings längst wieder auf die andere Seite gewechselt. Dieses Bündnis ist zwar sehr heterogen und verfügt für die Zukunft über eine Reihe von Sollbruchstellen. Izzat al-Douri ist aber jener hochrangige Baath-Funktionär, der schon vor dem Sturz Saddam Husseins eine Hinwendung der Baath-Partei zum sunnitischen Islamismus betrieben hat und z.B. für die Einschreibung des Schriftzuges Allāhu akbar in die irakische Fahne verantwortlich war. Izzat al-Douri ist tatsächlich einer Strömung des Naqshibandi-Ordens verbunden, nachder sich auch diese „Armee der Männer des Naqshibandi-Ordens“ benannt hat. Das Ordenswesen der Sufis widerspricht allerdings wieder völlig der salafitischen Ideologie von Gruppen wie ISIS. Ob das alles langfristig hält, ist also fraglich. Derzeit ist ISIS aber auf die Kontakte und die militärische und politische Erfahrung der Baathisten angewiesen.

Wir haben es also nicht nur mit ISIS bzw. dem mit Beginn des Ramadan ausgerufenen „Islamischen Khalifat“ zu tun, sondern mit einer von einer viel breiteren Bevölkerungsschicht getragenen heterogenen sunnitisch-arabischen Bewegung, die zumindest in ihren Anfängen auch von manchen Verbündeten der USA in der Region – insbesondere Saudi-Arabien und der Türkei – mit unterstützt wurde.

Newroz.com: Im Jahr 2016 jährt sich das Sykes-Picot-Abkommen, auf Grundlage dessen Großbritannien und Frankreich Kurdistan unter sich aufteilten, zum 100. Mal. Jene Nation, der unter diesem Abkommen das größte Leid und Unrecht widerfuhr, war die kurdische Nation. Die ISIS erklärte am 10. Juni das Sykes-Picot-Abkommen für beendet. Wir gehen auf das 100-jährige Jubiläum dieses Abkommens zu, unter dem die Kurden so viel Leid ertragen mussten. Was sollten die Kurden in dieser Phase tun?

Thomas Schmidinger: Das Sykes-Picot-Abkommen war im Wesentlichen einen Aufteilung der Interessensphären der europäischen imperialistischen Mächte Großbritannien und Frankreich, das die Interessen dieser und nicht der Bevölkerung des Nahen Ostens diente. Es verursachte nicht nur für die Kurden, sondern auch für alle anderen massive Probleme. Wir scheinen mit der Erosion der auf dieser Basis entstandenen Nationalstaaten allerdings tatsächlich an einem Punkt angekommen zu sein, an dem diese von den Siegermächten des ersten Weltkrieges diktierte Ordnung tatsächlich an ihr Ende zu kommen scheint.

Daraus ergeben sich auch enorme Chancen für die Kurden, die allerdings nur genützt werden können, wenn sich die rivalisierenden kurdischen Akteure zumindest auf einige Grundpositionen einigen können. Derzeit sind die innerkurdischen Konflikte zwischen dem PKK-Parteienblock und dem PDK-Barzani-Block immer noch eines der Haupthindernisse gemeinsam um kurdische Interessen zu kämpfen. Insofern fällt es mir auch schwer auf die Frage zu antworten was „die Kurden“ in dieser Phase tun sollen.

Einerseits will ich als europäischer Politikwissenschaftler nicht den Kurden sagen was sie zu tun hätten. Andererseits halte ich aber auch das Ziel eines kurdischen Nationalstaates nicht für der Weisheit letzter Schluss. Ich fände es wichtiger sich konkret zu überlegen wie eine oder mehrere kurdische Entitäten gestaltet sein werden, als dass es einen kurdischen Staat gibt. Ein Staat ist ja kein Selbstzweck und für mich wäre es wichtiger, dass Kurdinnen und Kurden in demokratischen politischen Systemen leben, die Menschen- und Minderheitenrechte respektieren, als dass sie in einem kurdischen Staat leben. Für mich wäre es wichtiger, dass Kurdinnen und Kurden in einem System leben, das den Lebensunterhalt aller ermöglicht und sich nicht der Bereicherung weniger in einer Ölrentenökonomie verschrieben hat, als dass bestimmte kurdische Eliten in einem eigenen Staat herangezüchtet werden. Solche Fragen der Demokratie, der Politischen Ökonomie oder der Ökologie wären mir wichtiger als ein eigener Nationalstaat.

Newroz.com: Ein amerikanischer Soldat, der am Irakkrieg teilnahm, sagte, dass George Bush, ähnlich wie in Südkorea, 60 Jahre im Irak verbleiben wollte. Doch die Führung um Obama wertete den Irak als eine Art Vietnam und ließ die amerikanischen Streitkräfte gänzlich aus dem Irak abziehen.Nach dem Rückzug der USA (2011) vertrieb Ministerpräsident Nuri Al-Maliki sämtliche Sunniten aus den wichtigen Posten und schwächte sie somit. Der stellvertretende irakische Staatspräsident floh aus dem Irak, der Wirtschaftsminister landete im Gefängnis, viele ranghohe Generäle und Beamte wurden entlassen. Nuri Al-Maliki sendete die Dicle-Einheiten gegen die Kurden aus, stoppte die Budgetzahlungen an Kurdistan und veranlasste auch die Gehaltszahlungen der Peschmerge zu kappen. Auch wurden keine der vorgesehenen Verfassungsartikel, die sich auf die Kurden bezogen (insbesondere jene Artikel, die sich mit den umstrittenen Gebieten, wie z. B. Kerkuk befassen) umgesetzt. Nuri Al-Maliki schuf in Bagdad eine schiitische Diktatur. Wie sollten die Kurden sich in dieser Situation verhalten?

Thomas Schmidinger: Die Regierung Maliki hat sicher zur Konfessionalisierung der Situation im Irak beigetragen und eine massiv autoritäre Tendenz. Leider hat aber nicht nur Maliki, sondern haben sehr viele politische Akteure im Irak vom Autoritarismus des Baath-Regimes gelernt. Trotzdem liegen Welten zwischen einem Maliki und einem „Islamischen Khalifat“. Maliki war auf Kompromisse angewiesen und musste deshalb auch immer wieder mit Kurden Kompromisse schließen. Das macht ihn noch zu keinem Demokraten, es macht den Irak aber auch nicht zu einer bloßen schiitischen Diktatur, schon gar nicht zu einer Diktatur „der Schiiten“, da es auch unter schiitischen Politikern immer wieder Kritik an Maliki gab. Man muss da schon die Relationen im Blick behalten.

Dass es zu keiner Lösung der Kirkuk-Frage kam, dafür war keineswegs nur Maliki verantwortlich. Es hat sich in den Jahren nach 2003 leider unter den meisten arabischen Parteien des Irak ein Konsens herausgebildet, dass das nach Artikel 140 der irakischen Verfassung vorgesehene Referendum um Kirkuk so lange wie möglich verzögert und nach Möglichkeit nie abgehalten werden sollte. Letztlich ist die Provinz Kirkuk eine multiethnische Provinz in der zwar eine Kurdische Mehrheit existiert aber eben auch Regionen mit turkmenischer und mit arabischer Mehrheit existieren. Die Turkmenen wurden teilweise von der Türkei instrumentalisiert und die Araber wollten selbstverständlich auch nie Teil Kurdistans werden und am Ende ging es allen Beteiligten maßgeblich darum möglichst viel vom Erdöl Kirkuks zu bekommen. Das war neben dem historischen Trauma von Saddams Arabisierungspolitik und der kurdischen Bevölkerung in Kirkuk auch für die Kurden mit ein Grund warum sie eben ganz Kirkuk und nicht nur die mehrheitlich kurdischen Teile der Provinz wollten. Letztlich blockierten sich die gegenseitigen Ansprüche so sehr, dass es nicht einmal zu dieser Volksabstimmung kam. Am Ende des Tages ist die Kirkuk-Frage aber für die Sunniten wichtiger als für die Schiiten, die im Süden des Landes ohnehin auch über eigene Ölfelder verfügen und deren Territorium nach der Einnahme des Zentraliraks durch den „Islamischen Staat“ eigentlich gar nicht mehr an Kirkuk grenzt.

Mit Maliki wären wohl partielle Bündnisse möglich gewesen und strategisch muss sich Kurdistan wohl eine Gesprächsbasis mit der Regierung in Bagdad behalten. Immerhin würde es auch im Falle einer Unabhängigkeit im Süden weiterhin an diesen Rest-Irak grenzen. Vor allem aber wäre eine offene Konfrontation mit dem Iran – der die Regierung Maliki unterstützt – derzeit wohl ein schwerer strategischer Fehler. Der Iran wäre wohl in der Lage Kurdistan militärisch zu überrennen, wen es zu einer offenen Konfrontation und zu einem Mehrfrontenkrieg zwischen dem Islamischen Khalifat und dem Iran käme. Realistischer weise ist da in der derzeitigen Situation einiges an diplomatischem Geschick notwendig.

Der Irak ist de facto zerfallen und langfristig wird niemand die Kurden dazu zwingen können in einem zerfallenen Staat zu bleiben. Trotzdem ist es jetzt wichtig nicht zu sehr mit einer symbolischen Politik vorzupreschen, sondern vor Ort das Erreichte abzusichern.

Newroz.com: Vor kurzem merkte der amerikanische General David Petreaus an, dass Amerika mithilfe von Luftschlägen gegen die ISIS die schiitischen Kämpfer unterstützen könne. Gewissermaßen ist die ISIS, geprägt von sunnitischem Einfluss, eine arabisch-nationalistische Bewegung. Die Unterstützung alter Bath-Anhänger für die ISIS bestätigt diese Sichtweise. In bestimmten kurdischen Kreisen heißt es, dass dieser Krieg nicht der Krieg der Kurden sei. Falls Kräfte, wie die ISIS sich in der Region niederlassen, werden sie jedoch gleichzeitig zu Nachbarn Kurdistans. Ferner erheben die sunnitischen Araber Anspruch auf Mosul, Kerkuk und einige andere Gebiete Kurdistans. In Zukunft könnten sie in einem Krieg gegen die Kurden Unterstützung seitens der Türkei und den arabischen Staaten erhalten. Welche Stellung sollte Kurdistan vor diesem Hintergrund beziehen?

Thomas Schmidinger: Derzeit scheint die Türkei eher mit Barzani gegen ISIS vorgehen zu wollen als umgekehrt. Klar wurde diese Gruppe ursprünglich zumindest stillschweigend geduldet, wenn nicht sogar aktiv unterstützt. Aber Barzani hat ein wesentlich besseres Verhältnis zu Erdoğan als Abu Bakr al-Bagdhadi. Rücken wir also auch hier die Dinge etwas zurecht: Die Region Kurdistan ist de facto zu einem erweiterten Wirtschaftsraum der Türkei geworden. Die PDK kann mit der AKP ganz gut und Barzani hilft derzeit eher der AKP eine Konkurrenzpartei zur PKK aufzubauen als, dass er fürchten müsste von der Türkei überrannt zu werden. Zudem wird die Türkei bezüglich ISIS selbst langsam nervös. ISIS ist zudem selbst keine arabisch-nationalistische Bewegung, sondern ist mit den Baathisten und anderen arabischen Nationalisten nur ein Bündnis eingegangen.

Ein großer Teil der Kämpfer von ISIS besteht aus internationalen Jihadisten, von denen viele nicht einmal Araber sind, etwa Tschetschenen, Türken, Europäer und auch Kurden. Vor allem aus Halabja gibt es eine ziemlich große Zahl an jungen Männern in den Reihen von ISIS und auch von den Jihadisten, die sich aus Österreich aufgemacht haben, sind einige Kurden dabei. Ein vor Kurzem in Wien verurteilter junger Kurde, dem vorgeworfen wurde als Jihadist in Syrien gekämpft zu haben, kommt zum Beispiel aus einer PKK-Familie und wurde hier in Österreich radikalisiert. Da greift die Charakterisierung als arabisch-nationalistisch einfach nicht. Das sind junge Männer – und auch immer mehr junge Frauen – die sich in Europa radikalisiert haben und die offenbar in unseren Gesellschaften schwere Krisensituationen durchmachen und dann in einem jihadistischen Islam Halt und Sinn finden.

Für den Irak ist entscheidend, dass die Kurden nun nicht nur auf sich selbst schauen, sondern auch die Minderheitsregionen in den Provinzen Ninive und Kirkuk vor ISIS schützen, also die Gebiete in denen aramäischsprachige Christen oder – vielfach schiitische – Turkmenen leben, zugleich diese Regionen sich aber nicht einfach einverleiben, sondern ihnen zumindest eine substantielle Autonomie zugestehen und auch das Selbstbestimmungsrecht dieser kleineren Minderheiten respektieren.

Newroz.com: Das Weiße Haus hat sich in den letzten Tagen mit dem Präsidenten Kurdistans, Mesud Barzani und den führenden sunnitischen und schiitischen Politikern in Verbindung gesetzt, um gemeinsame Maßnahmen gegen den Terror abzustimmen und eine Einheitsregierung aus Schiiten,
Sunniten und Kurden zu formen. Welche Forderungen sollten die Kurden an Bagdad stellen, falls sie bereit sind, den Plänen Amerikas zu folgen?

Thomas Schmidinger: Auch hier fällt es mir sehr schwer, den Kurden zu sagen was sie tun sollten, denn die Folgen davon haben ja nicht wir Wissenschaftler aus dem Westen zu tragen, sondern die kurdische Bevölkerung. Das Minimum wäre aber wohl, dass endlich die eingefrorenen Gelder aus Bagdad ausgezahlt werden und damit nach Monaten endlich die Gehälter in Kurdistan bezahlt werden können, sowie Volksabstimmungen in allen mehrheitlich kurdischen Gebieten, ob sie der Region Kurdistan beitreten wollen. Das betrifft ja nicht nur Kirkuk, sondern auch die Sheikhan-Region und die Jebel Sinjar-Region in der Provinz Ninive, die Region um Khanqin und weiter südlich, die Gebiete um Mandali.

Die Frage ist allerdings ob es für eine solche Aktion nicht schon zu spät ist und eine Rückeroberung und v.a. eine dauerhafte Sicherung des heute vom ‚Islamischen Khalifat’ kontrollierten Territoriums durch eine schiitisch-kurdische Allianz mit US-Unterstützung überhaupt noch realistisch ist.

Newroz.com: Funktionäre aus Südkurdistan bringen oftmals eine mögliche Unabhängigkeit Kurdistans zur Sprache. In der letzten Zeit haben sich Peshmerge-Kräfte in Regionen wie Kirkuk, die nach dem Vormarsch der ISIS von der irakischen Armee geräumt wurden, festgesetzt. Warum nehmen die Peshmerge-Kräfte nicht die gesamten Gebiete Südkurdistans ein, angefangen mit Hemrin? Oder wollen die Kurden erneut auf die Anwendung der irakischen Verfassung vertrauen?

Thomas Schmidinger: Der ganz überwiegende Teil der kurdischen Siedlungsgebiete des Irak ist derzeit unter Kontrolle der kurdischen Peshmerga und teilweise darüber hinaus. So kontrollieren die Peshmerga derzeit auch christlich-aramäische Gebiete in der Ninive-Ebene und mehrheitlich turkmenische Gebiete in Kirkuk. In den Hemrîn-Bergen gibt es kaum kurdische Bevölkerung, das ist ein Gebiet in dem schon lange vor der Arabisierungspolitik Saddam Husseins arabische Stämme dominierten. Diese Region wäre allenfalls strategisch für die Kontrolle der Ölraffinerie von Baiji interessant. Aber auch dort gibt es keine kurdische Mehrheit und die Mehrheit der dortigen Bevölkerung würde eine Eroberung des Gebietes durch die Peshmerga wahrscheinlich als Besetzung betrachten.

Newroz.com: Ist die Regierung Südkurdistans, die mit der Türkei wirtschaftliche, politische und kulturelle Beziehungen pflegt, in der Lage die Unabhängkeit Kurdistans auszurufen? Wie wird in diesem Fall die Türkei, die ihren eigenen Kurden in Nordkurdistan jedwede Rechte verwehrt, reagieren? Zuletzt gab es auch ein Treffen einer KDP- und PUK-Delegation unter dem Vorsitz Necirvan Barzanis mit der iranischen Führung: Während den Gesprächen hob die iranische Seite eine “kurdisch-schiitische Allianz” hervor. Ist heute eine zweite Caldiran-Fehde möglich? Wie werden die Kurden in einem solchen Fall reagieren?

Thomas Schmidinger: In der Lage ist sich dazu wahrscheinlich schon. Die Frage bei der von Ihnen zu Recht erwähnten ökonomischen Abhängigkeit von der Türkei, ist nicht die formale staatliche Unabhängigkeit, sondern wie weit dieser Staat dann eben ökonomisch von der Türkei abhängig sein wird.

Die politische Einigkeit war immer ein zusätzliches Problem der Kurden und betrifft derzeit vor allem die Konflikte zwischen dem PKK- und dem PDK Parteienblock. Ich fürchte eher zukünftige innerkurdische Auseinandersetzungen als einen großen Konflikt zwischen Südkurdistan und der Türkei.

Newroz.com: Während die ISIS die de facto Grenzen überrennt, sind die Kurden weiterhin damit beschäftigt zwischen den Kurden selbst Mauern, Grenzen und Gräben aufzubauen. Die Erfolge in Südkurdistan bieten allen Kurden die historische Möglichkeit das Sykes-Picot-Abkommen zu überwinden. Als sich damals in Südkurdistan die Regierung und das Parlament bildeten, stellte die PKK sofort die Kriegs-Regierung “Botan und Bahdinan” entgegen. Heute stellt sich die PKK in Westkurdistan mit Kantonen den Kurden entgegen: Wie bewerten Sie diese Ereignisse?

Thomas Schmidinger: Ich weiß nicht genau was Sie damit meinen, dass die PKK in Westkurdistan Kantone den Kurden entgegenstellen würde. Das Problem ist natürlich, dass es dort einen massiven Konflikt zwischen der PYD (PKK) und der PDK-Syrien und anderen kurdischen Parteien gibt und die PYD die Kriegssituation auch nützt um ziemlich autoritär durchzugreifen. Trotzdem habe ich bei meiner letzten Recherche in Rojava, im Februar 2014, besehen, dass die von der PYD kontrollierten Volksverteidigungseinheiten YPG in der Bevölkerung sehr populär sind, weil sie zumindest den Krieg und die ISIS fern halten.

Das zentrale Problem in Rojava ist, dass einerseits diese drei Gebiete durch das Scheitern der Revolution und die Territorialgewinne von ISIS stark in die Defensive gedrängt wurden und dass andererseits alle wichtigen kurdischen politischen Akteure letztlich von außen gesteuert werden und ihre Entscheidungen nicht nur im Sinne der Bevölkerung von Rojava, sondern auch im Sinne größerer politischer Ziele treffen. Das betrifft sowohl die von Barzani abhängige PDK-S als auch die von der PKK abhängige PKK. Diese Fernsteuerung aus Hewlêr und Qandil hat die innerkurdischen Konflikte massiv verschärft. Ein Mittel diese Machtkämpfe auszutragen ist die Frage der Kontrolle der Grenze zwischen Rojava und Irakisch-Kurdistan. Solange die wesentlichen kurdischen politischen Akteure so agieren, wird sich daran wohl wenig ändern.

Newroz.com: Wenn Südkurdistan mit arabischen Kräften in Gefechte gerät bzw. die Unabhängigkeit Kurdistans erklärt, was können die Kurden aus den anderen Gebieten Kurdistans und in der Diaspora konkret tun?

Thomas Schmidinger: Wenig, aber doch ein wenig. Sie können sinnvolle und wohl überlegte Öffentlichkeitsarbeit betreiben, Kontakte zu europäischen politischen Parteien und Medien herstellen und konkrete humanitäre Hilfe für die Bevölkerung in der Region leisten. Was die Kurdinnen und Kurden in der Region sicher nicht brauchen, sind Kämpfer und Waffen. Davon sollte es in der Region genug geben.

Newroz.com: Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit für uns genommen haben und auf unsere Fragen eingegangen sind.

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